„Es ist unsere Verantwortung, Judenhass in aller Konsequenz entgegenzutreten“
Der Holocaust ist auch 79 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz unbegreiflich. Zwischen 1941 und 1945 ermordeten die Nationalsozialisten systematisch rund 6 Millionen europäische Jüdinnen und Juden.
Zum Gedenken an dieses Menschheitsverbrechen hielt Minister Falko Mohrs im Rahmen einer Matinee am 21. Januar 2024 in der Berliner Vertretung des Landes Niedersachsen eine Rede, die im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben ist:
Im Rahmen einer Delegationsreise im vergangenen September besuchte ich mit weiteren Ministerinnen und Ministern aus anderen Ländern das Konzentrationslager Auschwitz I und das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Wie wahrscheinlich jede Person, die dort einmal gestanden hat, verlässt man diesen Ort verändert.
Elie Wiesel trifft es emotional sehr gut:
„Darüber zu sprechen, ist unmöglich; darüber zu schweigen ist verboten!“
Am 27. Januar 1945 erreichte die Rote Armee das Vernichtungslager und befreite die dort von ihren Peinigern völlig entkräftet zurückgelassenen 5.800 Häftlinge.
Die Zahl dieser Überlebenden ist entsetzlich gering. Erst recht im Verhältnis zu den ca. 1.1 Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden in Auschwitz-Birkenau.
Die Dimensionen, die man vor Ort nur erahnen kann, die Dimension einer Fabrik, die dort geschaffen wurde, deren „Produkt“, wenn man das so hart aus der Sicht der Deutschen formuliert, der Tod war.
Auch 79 Jahre später gibt es keine Worte, die dieses in der Menschheitsgeschichte einmalige und bestialische Verbrechen angemessen beschreiben können.
Dort in Auschwitz zu stehen, die Gedenkstätte zu besuchen, bedeutet in aller Klarheit zu realisieren, dass Auschwitz für das Ende eines entmenschlichenden Weges stand und weiter steht, an dem die Nationalsozialisten die Auslöschung der Jüdinnen und Juden Europas in perfider Technokratie umgesetzt haben.
Gerade heute muss man sagen: Dieser Weg hatte Etappen.
Antisemitismus, Entrechtung, Enteignung, Gewalt, Freiheitsberaubung, Mord.
Wir sollten uns dieser Schritte sehr bewusst sein.
Sie führen uns in den eigenen Nahbereich.
Lassen das große Wort des Holocaust an die eigene Welt heranrücken. Nahe an die eigene Haustür. Nahe an den eigenen Arbeitsplatz, das private Umfeld, die eigene Lebenswelt.
Viele haben diesen Nahbereich in der Vergangenheit nicht wahrhaben wollen, nicht gesehen oder gar ignoriert.
Dies darf uns nie wieder passieren.
Seit etwas mehr als einem Jahr bin ich Minister in Niedersachsen und passiere jeden Tag die Schranke zum Hof meines Ministeriums.
Wo heute eine gepflasterte Fläche für Parkplätze ist, befinde ich mich an einer historisch-zentralen Stelle, an einem Schauplatz des Holocausts in Hannover.
An einem Ort, an dem jüdische Kultur und Verfolgung zusammenfielen. Und der gleichfalls Auskunft über das kollektive Nicht-Hinsehen, das Mitlaufen, das Verdrängen, auch das Beschweigen nach 1945 gibt.
Genau das müssen wir ändern, Geschichte sichtbar machen.
Weil unsere Verantwortung niemals abstrakt sein darf, sondern konkret werden muss – sie braucht Namen und sie braucht Orte.
Am Ende des heutigen Parkplatzes stand die imposante Neue Synagoge, einst das spirituelle jüdische Zentrum der Stadt, ein Meisterwerk von Edwin Oppler, einem jüdischen Architekten.
Nationalsozialisten steckten diese Synagoge am 9. November 1938 in Brand.
Auch die Alte Synagoge lag nur wenige Meter weiter. Sie diente in der Folge der Novemberpogrome als Zuflucht, als Gebetshaus für eine immer kleiner werdende jüdische Gemeinde in Hannover. Im September 1941 wies die Mobilmachungs-Abteilung der Stadt Hannover alle Jüdinnen und Juden in die Bergstraße 8 ein.
Innerhalb weniger Stunden mussten sie zuvor ihre Wohnräume verlassen. In der Aufforderung heißt es, sie seien schuld am Krieg, und daher müsse ihr Wohnraum eingeschränkt werden.
Eine von ihnen war Elisabeth Eichwald. Sie war 54 Jahre alt. Sie war Sprachlehrerin. Sie leitete die jüdische Grundschule, die während der NS-Zeit entstand, als jüdische Kinder nicht mehr die staatlichen Schulen in Hannover besuchen durften. Die Klassenräume und Wohnungen waren zum sogenannten Judenhaus geworden.
Zehn Wochen später legt der Oberfinanzpräsident Hannover eine Akte zu Elisabeth Eichwald an, die ihre Habseligkeiten festhält: All das, was ihr kurz darauf genommen werden wird.
Ihr Konto weist ein Guthaben von gut 6 Reichsmark auf, 412 Reichsmark Erspartes liegen im Schließfach der Dresdner Bank Filiale in Hannover. Eine Seite weiter steht in Schreibmaschinenschrift:
"am 15.12.41 nach Riga abgewandert“.
Der Deportationszug aus Hannover lief drei Tage darauf am Rigaer Rangierbahnhof Škirotava ein.
SS-Männer trieben die Verschleppten aus den Wagen. Wer nicht mehr gehen konnte, wurde kurz darauf im Wald erschossen.
„Abgewandert“: Das Wort ist, auch jetzt, wo über „Remigration“ gesprochen wird, die gleiche Verharmlosung, perfide semantische Verkehrung, die wir heute erleben. Es geht um Deportation. Das war das Ziel damals und offensichtlich auch das, was einige heute verfolgen.
Die anderen Verschleppten marschierten, bewacht von lettischen SS-Männern, einige Kilometer in das Ghetto. Wie lange Elisabeth Eichwald dort noch gelebt hat, wissen wir nicht.
Wir wissen nicht, wie sie starb und wir kennen nicht ihr Grab.
So wie die meisten der Bergstraße 8 ins Ghetto in Riga oder nach Warschau oder ins KZ Theresienstadt deportiert oder später im KZ Stutthof oder Auschwitz ermordet wurden.
Wer Akten von Elisabeth Eichwald und anderer Jüdinnen und Juden in der Bergstraße durchsieht, versteht:
Wenige Meter von unserem Leben entfernt, wurde Schritt für Schritt der Holocaust geplant, mit Gesetzen, mit Verordnungen durchgeführt, akribisch, zweckrational zwischen Aktendeckeln festgehalten.
Und wir lesen zwischen den Zeilen, dass niemand mehr mit der Rückkehr von Elisabeth Eichwald und den anderen im Judenhaus in der Bergstraße 8 rechnete, denn sie waren „abgewandert“.
Man hatte Elisabeth Eichwald alles genommen, bis auf das, was sie am Leibe trug. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihr eigentlich nur noch ihr Leben geblieben. Auch das verlor sie dann fernab von Hannover, und es begann eigentlich so nah.
„Nie wieder Auschwitz“ heißt also auch, dass wir bei uns beginnen müssen.
Immer wieder war und ist der Euphemismus zu hören, dieses Verbrechen sei „im deutschen Namen“ begangen worden.
Dem muss man gerade jetzt deutlich widersprechen:
Der Holocaust ist nicht von irgendwem „im deutschen Namen“ begangen worden, sondern von Deutschland und von Deutschen.
Diese entmenschlichenden Taten wurden von unzähligen Deutschen im offiziellen deutschen Regierungsauftrag begangen. Millionen Deutsche halfen, schauten weg oder akzeptierten einfach, was dort geschah. Auch deswegen muss man sich immer vor Augen halten, was Marian Turski als das sogenannte, von ihm elfte Gebot formuliert hat:
„Du sollst nicht gleichgültig sein!“
Daraus ergibt sich eine niemals endende Verantwortung für uns alle in Deutschland. Eine Verantwortung, die sich nicht auf Reden, Veranstaltungen beschränken darf.
Vielen von uns tut es gut, zu sehen, wie viele in diesen Tagen auf der Straße sind, wie viele sich deutlich äußern.
Aber uns muss allen klar sein: Unser Engagement als Zivilgesellschaft darf sich nicht darauf beschränken, einfach nur auf der Straße zu sein und damit zu glauben, wir hätten alle unsere Schuldigkeit getan. Das muss jeden Tag bei uns, in unserer Nähe, in unserem Nahbereich bewiesen werden.
Diese Verantwortung muss immer präsent sein und sich vor allem an zwei Aufgaben bewähren:
Zum einen im unverbrüchlichen Eintreten Deutschlands für das Existenzrecht Israels.
Am 7. Oktober 2023 ist der schlimmste Pogrom an Jüdinnen und Juden seit 1945 begangen worden. Jüdische Kinder, Frauen und Männer wurden ermordet, verschleppt, vergewaltigt, drangsaliert.
Hinter diesem Pogrom stand für die, die ihn begangen haben, das einzige Ziel, Israel zu vernichten, Jüdinnen und Juden zu vernichten.
Die Zäsur des 7. Oktobers ist auch deshalb so besonders tief, weil sie Israels Funktion als sichere Heimat, als Ort, wo sich Jüdinnen und Juden sicher fühlen können, in Frage gestellt hat.
Und deswegen ist es unsere Verantwortung, Israel bei seiner Verteidigung rückhaltlos beizustehen – und das gilt erst recht, wenn es schwierig ist. Und selbstredend gilt das Völkerrecht.
Aber: Es darf der Verweis darauf niemals ein Vorwand sein, um das Selbstverteidigungsrecht Israels in Frage stellen. Und deshalb müssen wir aus fester Überzeugung das Recht auf Selbstverteidigung unterstreichen und benennen.
Und wenn wir in diesen Tagen sagen, dass es unsere Chance ist, es anders zu machen, als es unsere Urgroß- und Großeltern getan haben, dann heißt das, dass wir beweisen müssen, dass dieses Mal Deutschland auf der richtigen Seite der Geschichte steht.
Jetzt muss sich zeigen, dass die Rede von der Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson keine hohle Phrase ist.
Die zweite Herausforderung, an der sich die deutsche Verantwortung für den Holocaust bewähren muss, ist die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland.
Jüdinnen und Juden, jüdisches Leben gehören seit über 1.700 Jahren genau hierher. Sie sind Teil unserer Geschichte.
Die Rückkehr eines lebendigen Judentums nach 1945 in das Land der Täter muss uns alle mit Demut und Dankbarkeit erfüllen.
Jüdisches Leben in Deutschland zu schützen, ist deshalb eine alltägliche, eine tagtägliche Aufgabe für alle Bürgerinnen und Bürger. Es ist genauso Staatsräson wie die Anerkennung des Existenzrecht Israels.
Am 27. November des letzten Jahres, in einer Villa in Potsdam, wenige Kilometer entfernt vom Haus der Wannseekonferenz – wie perfide kann man sein? – haben wir auch in diesen Tagen wieder erleben müssen, dass es offensichtlich das Interesse von einigen ist, dass sich Geschichte wiederholt. Und das eben der Satz, der deutlich vor dem Zweiten Weltkrieg entstand, aber in diesem Zusammenhang zu Recht oft wiederholt wird, dass wer aus der Geschichte nicht lernt, dazu verdammt ist, sie zu wiederholen, genau in dieser Situation deutlich wird.
Diese unverrückbare Grundfeste, von denen wir tief überzeugt sind, geraten in Gefahr.
Wenn Davidsterne an jüdische Gebäude gemalt werden, wenn jüdische Gotteshäuser zur Zielscheibe von Gewalt werden, wenn Jüdinnen und Juden Angst haben, sich öffentlich zu zeigen.
Der Grund für diese Verunsicherung ist Angst unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger vor Anfeindungen, Drohungen, Übergriffen. Und deshalb auch in aller Klarheit: Der Hass fängt im Kopf an, aber er endet dort nicht, er endet zu oft in Gewalt.
Dass dies in Deutschland geschieht, ist eine Schande!
Eine Schande, die alles in Frage stellen kann, was Deutschland in den letzten knapp 80 Jahren erreicht hat.
Deswegen ist es in unserer Verantwortung, in aller Konsequenz Judenhass, Antisemitismus in jeglicher Form entgegenzutreten mit der Härte des Rechtsstaates, aber auch mit der Klarheit der gesamten Zivilgesellschaft.
Das ist das Signal, was nach dem 7. Oktober des letzten Jahres und erst recht im Zusammenhang mit dem 79. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz ausgehen muss.
Das ist das Signal, welches öffentlich immer wieder deutlich zur Sprache gebracht werden muss.
Ich will auch deshalb an etwas erinnern, was Martin Niemöller sagte:
„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen – ich war ja kein Kommunist.
Als die Nazis die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen – ich war ja kein Gewerkschafter.
Als die Nazis die Juden holten, habe ich geschwiegen – ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
Deswegen ist so wichtig, zu begreifen, dass Ausschwitz das Ende eines Weges war und dieser Weg aus Etappen bestand, die entweder am Anfang hätten beendet werden müssen oder am Ende in dieses Menschheitsverbrechen gemündet sind. In Ausschwitz zu stehen, heißt zu realisieren, dass ein Nie wieder, ein Nie wieder bleiben muss.
Gestern, heute und morgen. Das ist unsere Verantwortung.
Die Rede ist in voller Länge auch auf dem Youtube-Kanal der Niedersächsischen Landesvertretung abrufbar (ab Min. 5:05):
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Artikel-Informationen
erstellt am:
26.01.2024
zuletzt aktualisiert am:
06.02.2024